Vom wahren Wesen der Tarifautonomie

Nicht zuletzt der Tarifstreit der Lokführergewerkschaft GDL bei der Deutschen Bahn hat sie wieder einmal angeheizt: die Diskussion um die Tarifautonomie. Ihre entscheidende Rolle als sozialer Friedensstifter und Mitgarant für den Wohlstand unserer Gesellschaft wird dabei jedoch gerne übersehen. Grund genug für eine grundsätzliche Einordnung.

Unter Tarifautonomie ist zu verstehen, dass Arbeitgeber oder Arbeit­geberverbände und Gewerkschaften gemeinsam mithilfe von Tarif­verträgen die Arbeitsbedingungen für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen regeln können, die für Beschäftigten in einem einzelnen Betrieb oder in einer ganzen Branche gelten. Dies tun die Sozialpartner in diesem Zusammenhang autonom, das heißt frei von staatlicher Einflussnahme.

Die Tarifautonomie ist indes ein hohes Gut: als Teil der Koalitionsfreiheit ist sie durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich ge­schützt. Diese Koalitionsfreiheit garantiert das Recht der Ar­beitgeber und der Beschäftigten, sich in Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zusammenzuschließen und Tarifverträ­ge zu vereinbaren.

 

Eine deutsche Erfolgsgeschichte

Mit über 87.000 aktuell gültigen Tarifverträgen, für mehr als 300 verschiedene Wirtschaftsbereiche, gestalten die Sozialpartner auf diese Weise eine Vielzahl der in Deutschland bestehenden Arbeitsverhältnisse. Insgesamt orientieren sich mehr als 75 Prozent der deutschen Beschäftigungsverhältnisse direkt oder indirekt an Tarifverträgen. Dabei konzentrieren sich die Inhalte der Verträge längst nicht mehr nur auf althergebrachte Tarifthemen, wie das Entgelt oder die Arbeitszeit.

Die Sozialpartner greifen stattdessen in ihren heutigen Tarifwerken in erheblichem Maße auch gesellschaftspolitische Herausforderungen auf, für die sie gemeinsame tarifpolitische Antworten entwickeln. So sind in zahlreichen Wirtschaftszweigen zukunftsweisende Vertragsmodelle zum Umgang mit dem demografischen Wandel oder der Digitalisierung der Arbeitswelt entstanden. Weitere Beispiele sind tarifliche Regelungen zu Altersvorsorgethemen, Qualifizierung oder beruflicher Bildung. Gerade auch die chemisch-pharmazeutische Industrie nimmt hier oftmals eine Vorreiterrolle ein.

Eine solch differenzierte Tarifpolitik ist mitunter erst dadurch möglich, weil gerade die Sozialpartner die hierfür nötige Nähe zu den Unternehmen und das entsprechende Bewusstsein für deren Problemstellungen aufweisen. Gleichzeitig wird jedoch auch einer angemessenen Beteiligung der Beschäftigten am wirtschaftli­chen Erfolg dauerhaft Rechnung getragen. Dieser Umstand hat in der Vergangenheit maßgeblich zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit und zu einer Sicherung der Beschäftigung in Deutschland beigetragen, und tut dies bis heute.

Die eingangs erwähnte Vielzahl getroffener Regelungen und ihre große Breitenwirkung zeigt deutlich: für das Gros der deutschen Wirtschaft wirkt die Tarifautonomie bis heute in bewährter positiver Manier, auch wenn es aufgrund der jüngsten Tarifauseinandersetzungen in einzelnen Nischen vielleicht anders scheinen mag.

Dies darf jedoch nicht täuschen. Das System der Tarifautonomie, mit seinem fortwährenden Interessenausgleich zwischen den Sozialpartnern, bildet weiterhin einen der Grundpfeiler für den sozialen Frieden, und sollte daher bewahrt werden.

Ruben Höpfer

Ruben Höpfer ist Diplom-Volkswirt und seit 2011 bei HessenChemie als Referent Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftsstatistik tätig. Zuvor war er Referent eines Industrie- und Arbeitgeberverbandes. Seine Kernkompetenzen liegen im Bereich der Analyse und Bearbeitung wirtschaftlicher, wirtschaftsstatistischer und arbeitsmarktpolitischer Fragen, insbesondere in Bezug auf tarifpolitische Auswirkungen für Unternehmen.

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