Tarifpolitik: eine tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft

„Und plötzlich ist da das Gefühl, in einem Streikland zu leben“, titelte die Süddeutsche Zeitung am 22. März 2024, als eine Tarifeinigung zwischen Bahn und GDL noch in weiter Ferne schien. Die Gewerkschaft der Lokomotivführer mit ihrem streitbaren Vorsitzenden Claus Weselsky hatte den Bahnreisenden und auch der Industrie so einiges zugemutet. Um ihre maximalen Forderungen durchzusetzen, ist die GDL die Strategie der maximalen Schäden gefahren. Als sich beide Seiten am 25. März endlich einigten, war die Erleichterung im Lande groß und die Forderung nach gesetzlichen Anpassungen wurde wieder laut. Dabei ging es insbesondere um die Frage der Verhältnismäßigkeit, denn als verhältnismäßig ließen sich die Streiks der Bahn in den Augen vieler nicht mehr bezeichnen. Die Tarifautonomie sei ein hohes Gut, mit dem alle verantwortungsvoll umgehen sollten. Wir schauen uns diese hier einmal genauer an.

Lebendige Tarifautonomie

Die Tarifautonomie spielt im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft insbesondere im Hinblick auf ihre befriedende und vermittelnde Funktion eine immens wichtige Rolle für den Erhalt des sozialen Friedens in Deutschland und ist damit auch ein wichtiger Pfeiler für unseren Wohlstand. Die Tarifautonomie ist durch Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz verfassungsrechtlich geschützt und erlaubt es Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden, mit Gewerkschaften in Tarifverträgen die Arbeitsbedingungen für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen, beispielsweise für eine ganze Branche, zu regeln – und zwar autonom, ohne staatlichen Einfluss. Diese Autonomie hat sich in Deutschland über die Jahrzehnte bewährt – und wird rege genutzt. Allein im Jahr 2023 wurden 7.201 Tarifverträge abgeschlossen, wodurch im letzten Jahr 87.041 Tarifverträge gültig waren. Seit 1949 wurden insgesamt bislang 461.111 Tarifverträge vereinbart.

Große Breitenwirkung

Dieses differenzierte System eines fortwährenden Interessenausgleichs zwischen unternehmerischen Belangen und den sozialen Bedürfnissen der Beschäftigten hat eine große Breitenwirkung in der Gesellschaft. So orientieren sich in Deutschland die Arbeitsbedingungen von mehr als 75 Prozent der Beschäftigten direkt oder indirekt an tarifvertraglichen Regelungen. Durch die Tarifautonomie lässt sich insbesondere eine angemessene Beteiligung der Beschäftigten am wirtschaftlichen Erfolg sicherstellen, ohne die Unternehmen gleichzeitig kostentechnisch zu überfordern. Die Tarifvertragsparteien können am besten die wirtschaftliche Situation in ihren Branchen und Unternehmen einschätzen und demgemäß passende Vereinbarungen treffen.

Innovative Erfolgsgeschichte

Darüber hinaus bietet die Tarifautonomie den Tarifpartnern die umfassende Möglichkeit, innovative, branchengerechte und zukunftsfeste Lösungen für bedeutende gesellschaftspolitische Herausforderungen zu entwickeln, wie beispielsweise in den Feldern Demografie, Ausbildung oder digitaler Wandel der Arbeitswelt. Gerade das Tarifvertragswerk der Chemie- und Pharmaindustrie ist hierfür ein entsprechendes Vorbild.

Tarifautonomie: ein hohes Gut – Typen und Funktionen von Tarifverträgen

Tarifverträge regeln verschiedene Bereiche des Arbeitslebens. Dabei gibt es unterschiedliche Typen: Am bekanntesten ist der Lohn- und Gehaltstarifvertrag, in dem konkrete Erhöhungen der Ecklöhne, meist in Prozenten, ausgehandelt werden. Zusätzlich können Einmalzahlungen in absoluten Beträgen vereinbart werden, von denen insbesondere niedrigere Lohngruppen profitieren. Diese Tarifverträge haben in der Regel eine kurze Laufzeit. Daneben legen Entgeltrahmentarifverträge fest, welche Berufsgruppen in welche Einkommensgruppen eingeteilt werden. Andere Aspekte der Arbeitsbedingungen regelt der Manteltarifvertrag. Dieser läuft meist über mehrere Jahre und regelt Themen wie Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche und die Struktur von Schichtarbeit. Neben den allgemeinen Manteltarifverträgen gibt es viele spezifische Tarifverträge, die spezielle Bereiche wie die betriebliche Altersvorsorge, Altersteilzeit oder das betriebliche Gesundheitsmanagement abdecken. Flächentarifverträge haben das Ziel, betriebliche Konflikte zu vermeiden und gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Mitgliedsunternehmen zu schaffen. Aus Gewerkschaftssicht sollen sie die Mitglieder schützen, sie am wirtschaftlichen Fortschritt beteiligen und die Arbeitswelt mitgestalten. Das Tarifvertragsgesetz betont explizit die Schutz-, Verteilungs-, Befriedungs- und Ordnungsfunktion von Tarifverträgen.

Befragung von 201 Unternehmen im Rahmen des IW-Personalpanels im Frühjahr 2022 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, © 2023 IW Medien/iwd

Ruben Höpfer

Ruben Höpfer ist Diplom-Volkswirt und seit 2011 bei HessenChemie als Referent Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftsstatistik tätig. Zuvor war er Referent eines Industrie- und Arbeitgeberverbandes. Seine Kernkompetenzen liegen im Bereich der Analyse und Bearbeitung wirtschaftlicher, wirtschaftsstatistischer und arbeitsmarktpolitischer Fragen, insbesondere in Bezug auf tarifpolitische Auswirkungen für Unternehmen.

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