Inklusion betrieblich gestalten und was das heißt

Wovon sprechen wir bei Inklusion? Nur von Rollstühlen und aufwendigen Umbauten? Und wie packe ich Inklusion betrieblich an? Braucht es dafür neue Regeln oder eine andere Haltung? Dies waren nur zwei Fragen, die bei der Sozialpartner-Werkstatt für Innovation und Nachhaltigkeit – kurz So.WIN – immer wieder auftauchten. Gastgeber waren die hessischen Chemie-Sozialpartner, die Inklusionsbeauftragte und Schwerbehindertenvertreter*innen aus unseren Mitgliedsunternehmen am 09. Juni nach Wiesbaden einluden.

Die Vorgeschichte dieser Veranstaltung reicht (coronabedingt) knapp zwei Jahre zurück, als die Chemie erneut vorgedacht hat.

Dirk Meyer (HessenChemie, Mitte) und Peter Schuld (IG BCE, links) diskutierten abschließend mit Staatssekretärin Anne Janz aus dem hessischen Sozialministerium, wie Unternehmen konkret unterstützt werden können.

Bundesweit erste Sozialpartnervereinbarung zur Inklusion

Um nämlich das Verständnis für Inklusion in unserer Branche weiterzuentwickeln und Maßnahmen zur betrieblichen Umsetzung zu initiieren, haben der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) und die IG BCE im September 2020 die bundesweit erste Sozialpartnervereinbarung zur Betrieblichen Teilhabe und Inklusion unterzeichnet. Die in Hannover unterschriebene Vereinbarung möchte das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen und deren Fähigkeiten schärfen und zeigen, wie eine von Anfang an berücksichtigte Einbindung in Arbeitsprozesse gelingen kann.

Menschen mit Beeinträchtigungen sollen in einem inklusiven Arbeitsumfeld einen gleichberechtigten Zugang zur Arbeitswelt haben und ihre Kompetenzen sinnvoll und gewinnbringend einsetzen können. Barrieren, aus Einstellung oder Umwelt, welche diese Teilhabe am Arbeitsleben behindern, sollen weitgehend abgebaut werden. So die Theorie und so der Anspruch. Unser Ziel in Hessen war es, diesen Impuls der Bundesebene noch weiter herunterzubrechen und betrieblich handhabbar zu machen.

Inklusion besser verstehen

Doch bevor wir in die Praxisbeispiele gehen, hilft es vielleicht vorab, sich ein paar Dinge klarzumachen: Zum Beispiel, dass nicht jede Beeinträchtigung erkennbar ist, dass die Bandbreite dieser Beeinträchtigungen sehr groß sein kann und die meisten von uns nicht davor gefeit sind, selbst einmal betroffen zu sein.

Quelle: Eigene Darstellung

Wer diese Aspekte erkennt, den geht Inklusion gleich viel direkter an als ursprünglich vielleicht angenommen. Auch verlieren pauschale Vorstellungen von Krankheit und Behinderung an Bedeutung – wichtiger wird hingegen, wie mit sehr spezifischen Herausforderungen (wie bei Rheuma, Diabetes, Sehbehinderung oder Depressionen) im Arbeitskontext umzugehen ist, wozu die REHADAT-Wissensreihe wertvolle Hinweise liefert. Zudem wird deutlich, dass Inklusion nicht auf Schwerbehinderung und die politisch immer wieder diskutierte Ausgleichsabgabe verengt werden darf.

Stellt man die Menschen im erwerbsfähigen Alter mit einer leichteren Behinderung oder einer Schwerbehinderung jenen gegenüber, die 65 Jahre und älter sind, bemerkt man, dass der Anteil dieser älteren Personengruppe deutlich höher ausfällt. Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass gerade im Erwerbsleben auch die Erkrankungen und Einschränkungen unter der Wahrnehmungsschwelle der (amtlich anerkannten) Schwerbehinderung in den Blick genommen werden müssen. Mit ‚Sag ich’s?‘ gibt es hierzu ein Projekt des Lehrstuhls für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln, das genau darauf abzielt.

Quelle: Mikrozensus, Statistisches Bundesamt, 2021

Das Bild bei der Beschäftigungspflicht

Und noch zwei weitere Zahlen zur Orientierung: Die Beschäftigungsquote der Chemie liegt nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem April 2022 bei 4,5 Prozent, also geringfügig unter der gesetzlichen Mindestanforderung. In der branchenübergreifenden Betrachtung sind es eher die kleineren Unternehmen (mit weniger als 250 Beschäftigten), welche ein Stück weiter unter der 5 Prozent-Hürde liegen. Die Beschäftigungsquote in dieser Größenklasse liegt zwischen 2,8 und 3,7 Prozent.

Aktivitäten für eine verbesserte Inklusion sollten deshalb in erster Linie diese Mittelständler adressieren, durch praxisnahe Informationen, einfache Antrags- und Genehmigungsverfahren und Sensibilisierungsangebote, die den business case solchen Handelns verdeutlichen. Die im Aufbau befindlichen Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber erscheinen dafür als richtiger Schritt; deren Leistungsfähigkeit als Lotse – das heißt als Erklärer, Beschleuniger, Vereinfacher von Arbeitgeberanfragen – zwischen den Säulen der deutschen Sozialversicherung wird man aber erst künftig einschätzen können.

Die Aktion Mensch hat hierzu mit Christoph Beyer, Leiter des Inklusionsamts beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) ein Interview geführt, wie die neuen Ansprechstellen arbeiten sollen und der aktuelle Planungsstand ist (hier geht es zum Podcast-Transkript):

Aber das Hauptaugenmerk der Arbeitgeber liegt immer darin, dass sie sagen: Sie wollen jemanden, der sie begleitet. Sie möchten einen verlässlichen Ansprechpartner haben für all die Fragen, all die Sorgen und Nöte, die vielleicht in so einem Beschäftigungsverhältnis mit einem Menschen mit Einschränkung auftauchen. […] Dieser verlässliche Partner wird die einheitliche Ansprechstelle sein.

– Christoph Beyer, Leiter des LVR-Inklusionsamts

Die Androhung einer vierten Staffel der Ausgleichsabgabe für ‚Null-Beschäftiger‘ durch den Bundesarbeitsminister hingegen dürfte bestehende Hemmnisse eher verfestigen, anstatt dort für mehr Sog und Chancenorientierung zu sorgen, wo diese ausbaufähig ist (zumal Integrationsämter heute bereits Schwierigkeiten haben, die ihnen zufließenden Gelder zweckgebunden sinnvoll wieder einzusetzen; in 2021 waren das in Hessen etwa 57 Millionen Euro). Mehr Geld im System bedeutet nicht gleich mehr Lösungen für Inklusion vor Ort.

Im Jahr 2019 haben fast dreiviertel der Arbeitgeber die Beschäftigungspflicht schwerbehinderter Menschen teilweise oder ganz erfüllt. Etwa ein Viertel der Arbeitgeber erfüllt diese nicht. Eine Frage der Perspektive, ob dieses Glas als Dreiviertel voll oder Einviertel leer angesehen wird.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit – Schwerbehinderte Menschen in Beschäftigung, 2021

Inklusion umsetzen – unsere Gemischten Doppel

Mit unseren ‚Gemischten Doppeln‘ jedenfalls wollten wir Bereiche für Inklusion aufzeigen, die Betriebe unmittelbar angehen können. Experten und Praktiker spielten bei den folgenden Schwerpunkten zusammen:

  • Lösungen behinderungsbedingter Technik: Unternehmen können nicht all die spezialisierten Lösungen behinderungsbedingter Technik oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kennen (siehe das Beispiel zum Hebelift unten). Aber Sie können wissen, wen sie dazu fragen, wo sie gute Beispiele finden und wie sie die Leistungen beantragen. Der beim Integrationsamt Hessen angesiedelte Technische Beratungsdienst gibt dabei hilfreiche Unterstützung: Ingenieurinnen und Ingenieure kommen ins Unternehmen, um sich anzusehen, wie die Arbeitsplätze ausgestattet oder umgebaut werden können, welche technischen Arbeitshilfen geeignet sind und wie man sie bedient.

  • Inklusionsvereinbarungen gestalten: Inklusionsvereinbarungen geben den betrieblichen Aktivitäten einen Rahmen, etwa indem dort konkrete, erreichbare und überprüfbare Ziele beschrieben sind (wobei weniger oft mehr ist). Ausgangspunkt einer solchen Vereinbarung kann der Bauplan-Konfigurator von REHADAT sein, der erste Bausteine einer individuell zu verhandelnden Vereinbarung vorschlägt, es aber auch ermöglicht, diese durch eigene Elemente zu ergänzen oder umzugruppieren.

  • Menschen mit Behinderung finden und einstellen: Unternehmen welche die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen erkennen, positionieren sich auch entsprechend auf dem Arbeitsmarkt. Die Jobbörse myAbility.jobs und deren dazugehöriges DisAbility Recruiting ermöglicht Jobsuchenden mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen sich chancengleich zu bewerben und gezielt angesprochen zu werden. Arbeitgeber verdeutlichen so aber auch, dass deren Bewerbungen ausdrücklich erwünscht sind und erhöhen dadurch ihre Glaubwürdigkeit bei Menschen mit Behinderungen.

Technische Lösung bei chronisch gewordenem Rückenleiden

Mit der hier dargestellten Hebehilfe – das Bild des EXPRESSO lift2move 🙂 wurde uns vom Hersteller zur Verfügung gestellt – konnte bei ICCR Roßdorf ein Mitarbeiter unterstützt werden, dessen chronisch gewordenes Rückenleiden ihm nicht mehr ermöglichte alle bisherigen Tätigkeiten als Tierpfleger auszuüben (zum Beispiel Freihand einen Sack Tierfutter in einen Trichter zu wuchten und dort aufzuschneiden).

Mit Maßnahmen dieser Art ist es dem Unternehmen mit 76 Beschäftigten gelungen, eine Quote von Menschen mit Schwerbehinderung oder Gleichstellung von 17,1 Prozent zu erreichen, wobei der Landesdurchschnitt bei 4,6 Prozent liegt.

Von den Kosten der mobilen Hebehilfe wurden durch das Integrationsamt 75 Prozent auf Grundlage eines Antrags auf Begleitende Hilfe im Arbeitsleben finanziert. Ergänzend zum Lift wurde ein Antrag auf personelle Unterstützung über monatlich 340 Euro bewilligt, um jene Aufgaben zu kompensieren, die aus gesundheitlichen Gründen für den Betroffenen nicht mehr durchführbar sind.

Sag ich’s? Chronisch krank im Job

Bevor die Veranstaltung mit Workshops zur Inklusiven Führung und einem politischen Gespräch schloss, präsentierte Frau Prof’in Dr. Mathilde Niehaus das Projekt ‚Sag ich’s?‘, das sich am einfachsten durch das folgende Video einführen und erklären lässt.

Das vom BMAS und von AbbVie Deutschland geförderte Projekt stellt also eine Hilfestellung für jene dar, die über eine Offenlegung Ihrer gesundheitlichen Situation nachdenken. Zu Recht wurde in unserer anschließenden Diskussion darauf hingewiesen, dass es Mitarbeitenden nicht immer freisteht, den Arbeitgeber über eine Beeinträchtigung zu informieren (der Umgang mit Gefahrgut ist ein solch kritischer Risikobereich). Die Projekt-Webseite enthält unter ‚Gut zu wissen‘ zur Vertiefung solcher Aspekte mehrere Rubriken mit qualitätsgesicherten Informationen.

Im Kern von ‚Sag ich’s?‘ steht jedoch der Selbst-Test, dessen Fragen in verschiedene Themenbereiche strukturiert sind, die Einfluss auf die Entscheidung des Betroffenen und die damit verbundenen Folgen haben.

Mathilde Niehaus vom Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln erläuterte die Entstehung des Projekts und Konzeption des Tests. Sie machte auch klar, wie man mit den Ergebnissen im Anschluss umgehen kann.

Was deutlich wurde: Der Selbst-Test kann niemandem die Entscheidung (‚Sag ich’s?‘) abnehmen und zwischen ‚Ja‘ und ‚Nein‘ gibt es viele Abstufungen. Der Test kann sich aber gerade dann lohnen, wenn ich die eigenen Gedanken sortieren und mich an mögliche Folgen erinnern möchte, die ansonsten vielleicht unberücksichtigt geblieben wären. Fest steht hingegen, dass die betrieblichen Akteure (Inklusionsbeauftragte, Schwerbehindertenvertreter*innen) mit dem Selbst-Test ein interessantes Instrument an die Hand bekommen, das Menschen mit chronischen Erkrankungen erlaubt, informiert und selbstbestimmt mit ihrer Situation umzugehen – und das gerade dort, wo sich ein Großteil unseres Berufslebens abspielt: am Arbeitsplatz.


Handlungswissen für Arbeitgeber zur Inklusion finden unsere Mitgliedsunternehmen unter der Praxishilfe Inklusion im geschützten Bereich der HessenChemie-Webseite.


Weitere Veranstaltungseindrücke von So.WIN 2022

Clemens Volkwein

Clemens Volkwein

Clemens Volkwein ist Demografieberater für die hessischen Unternehmen aus Chemie, Pharma und Kunststoffverarbeitung. Hysterie in der Demografie-Debatte hält er für überflüssig, gute Ideen hingegen nicht, wie sich die Alterung und Schrumpfung unserer (berufstätigen) Bevölkerung positiv gestalten lassen.

Alle Beiträge von Clemens Volkwein

Verpassen Sie keine Blogbeiträge!

Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung

Aktuelle Tweets

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Kommentare
Inline-Rückmeldungen
Alle Kommentare anzeigen