Externe Mitarbeiterberatung als Lotsendienst in Krisenzeiten
Unsere Gesundheit ist von vielen Faktoren beeinflusst, auch von jenen, die nicht unmittelbar mit der Arbeit zu tun haben. Trotzdem wirkt jede Belastung früher oder später auf unsere ‚Arbeitsplatz-Fitness‘. Für solche Fälle etablieren sich immer mehr Services, die an der Schnittstelle von Unternehmen und Umfeld tätig sind.
Wer sich heute mit Gesundheitsmanagement beschäftigt, stößt mit Sicherheit irgendwann auch auf das Kürzel EAP, das sogenannte Employee Assistance Program. Wer hier wen unterstützt und warum das EAP ein Baustein im Gesundheitsmanagement sein kann, wollte ich von Dr. Hansjörg Becker wissen, Geschäftsführer des EAP-Anbieters INSITE.
Der Nutzer einer externen Mitarbeiterberatung
Herr Dr. Becker, können Sie kurz erklären was ein Employee Assistance Program (EAP) ist und welchen Nutzen der einzelne Beschäftigte, aber auch das Unternehmen davon haben soll?
EAP ist ein professioneller Beratungsdienst, der den Beschäftigten eines Unternehmens in allen beruflichen und persönlichen Anliegen zur Verfügung steht. Für die Beschäftigten besteht die Möglichkeit, sich rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr von Experten beraten und unterstützen zu lassen; von Alltagssorgen bis zu Krisen und Notfällen, und zwar dann, wenn die Beratung gebraucht wird. Das ist im Vergleich zu den langsamen Strukturen im Therapie- und Beratungsbereich ziemlich einmalig. Und die Unternehmen profitieren ganz unmittelbar durch die Entlastung für Führungskräfte und HR, die den Mitarbeiter zügig und bedarfsgerecht betreut wissen.
Erklär-Video zum Employee Assistance Program
Lässt sich dieser Nutzen beziffern?
Wir haben gerade eine Berechnung durchgeführt, die sich auf einen Teilleistung unseres EAP bezieht, den Lotsendienst. Hier werden Mitarbeiter, die eine psychologische Behandlung benötigen, schnell in Therapie gebracht, sodass wir die Wartezeiten um 80% reduzieren können. Rechnerisch ergibt sich allein aus dieser Leistung eine Ersparnis von 77% der gesamten EAP-Kosten. Bezieht man das gesamte Programm ein, so kann man nach verschiedenen Studien mit einem ROI von 1:2 bis 1:4 rechnen. Es gibt auch weitaus höhere Schätzungen, die ich allerdings für unrealistisch halte.
Ein EAP unterstützt also in zahlreichen beruflichen aber auch privaten Lebenslagen. Warum soll ein Unternehmen sich eigentlich auch um private Anliegen seiner Beschäftigten kümmern?
Genau genommen, kümmert sich das Unternehmen mit einem EAP nicht um die privaten Belange seiner Beschäftigten. Aber es stellt ihnen einen Service, einen Rahmen zur Verfügung, der es den Beschäftigten ermöglicht und sie ermutigt, sich selbst, aktiv und frühzeitig um ihre privaten, ihre berufliche und gesundheitlichen Belange zu kümmern. Am Ende profitieren beide Seiten davon, und zwar umso mehr, je besser das Programm genutzt wird.
Stress und psychische Gesundheit – besonders bei Wissensarbeit wichtig
Nochmals zur psychischen Gesundheit, die in den Medien und Unternehmen heute mehr und offener diskutiert wird. Sind Erkrankungen auf diesem Gebiet wirklich häufiger geworden oder sind wir dafür einfach sensibler?
Es gibt unzweifelhaft einen Medienhype, der das Thema etwas verzerrt. Unstrittig ist aber, dass die Bedeutung der psychischen Gesundheit enorm zugenommen hat. Diese Bedeutungszunahme hat zwei grundlegende Ursachen: Erstens wandelt sich unsere Arbeitswelt mit rasanter Geschwindigkeit von der körperlichen Arbeit weg, hin zur Wissensarbeit, zur Kopfarbeit. Prognosen besagen, dass in 20 Jahren nur noch drei Prozent der arbeitenden Menschen körperliche Tätigkeiten verrichten wird. Das heißt: Alle Arbeit ist Kopfarbeit! Diese Entwicklung führt dazu, dass unsere psychischen und mentalen Fähigkeiten einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Wissensarbeiter, und das sind die meisten von uns, müssen konzentrationsfähig sein! Bei Ihnen ist das Stressrisiko also besonders groß, aber nicht weil ihre Arbeit besonders belastend wäre, sondern weil die negativen Folgen von Einbußen der Konzentration erheblich sind.
Die zweite Ursache für die Bedeutungszunahme der psychischen Gesundheit liegt in dem großen, geradezu epochalen Wandel unserer Gesellschaft. Alle Halt und Orientierung gebenden Strukturen verflüchtigen sich: Familie, Kirche/Religion, Gemeinden, Nachbarschaften, große Arbeitgeber etc. Und das bedeutet: kritische Situationen, Brüche, Krisen und Stress häufen sich einfach in unserem Leben und müssen öfter überwunden werden.
Dr. Hansjörg Becker ist Geschäftsführer und Gründer von INSITE, einem Anbieter für Externe Mitarbeiterberatung
Geben wir den Modethemen Stress und Burnout damit nicht zu viel Raum? Stress gab es zu allen Zeiten – welches ist die neue Qualität, die eine Dienstleistungen wie ein EAP aus Ihrer Sicht nötig macht?
Die neue Qualität liegt eben darin begründet, dass die gesellschaftlichen Institutionen, die in der Vergangenheit bei Orientierung und Bewältigung von Lebensaufgaben geholfen haben, nicht mehr wirksam sind. Daher werden ihre Aufgaben in Zukunft – zumindest teilweise – von Expertensystemen wahrgenommen werden. Und EAP ist eines davon.
Vielfältige Anlässe für EAP
Können Sie etwas zu den Anlässen sagen, weshalb Beschäftigte das Programm nutzen? Was sind die häufigsten Anliegen?
Es ist eine bunte Mischung von Fragen, wie sie das alltägliche Leben mit sich bringt. Arbeitsbezogene und private Themen sind ungefähr fifty/fifty verteilt. Konflikte am Arbeitsplatz, Überforderung, Erschöpfung sind ebenso häufige Themen in der Beratung wie ganz persönliche Anliegen, z.B. Familienfragen, also Ehe, Partnerschaft, Kinder, Erziehung, Trennung, Scheidung, neue Familie etc. Aber auch Themen wie Gesundheit, Stressbewältigung und das Gleichgewicht zwischen Beruf und Familie sind häufige Anliegen.
Und wie oft wird so ein Beratungsdienst durchschnittlich im Jahr genutzt?
Wir gehen von einer durchschnittlichen jährlichen Nutzung um 4 bis 5% aller Mitarbeiter aus. Die Streuung ist aber erheblich. So haben wir einige Kunden, deren Beschäftigten das Programm im Bereich von 10 bis 12% nutzen.
Betrachten Sie eine hohe Nutzung als etwas Positives? Ist das nicht ein Hinweis auf große Probleme und erschreckend, dass so viele Menschen Hilfe benötigen?
Ich betrachte es als etwas Positives, weil in diesen Unternehmen offenbar die Chance erkannt wird, die in einem EAP liegt. Die Beschäftigten moderner Unternehmen sehen sich nicht als ‚Helden‘, die jede Herausforderung alleine aus- und ertragen müssen. Hier herrscht vielmehr eine offene und vertrauensvolle Unternehmenskultur vor, die eine häufigere Nutzung des Programm gestattet als in Unternehmen, in denen Misstrauen dominiert. Eine gute und offene Kommunikation ist die Grundlage dafür. Und schließlich kann nur ein Programm, das gut genutzt wird, auch den Nutzen entfalten, der von ihm erwartet wird.
Gesundheitswesen kommt an seine Grenzen
Noch einmal die Frage, warum Unternehmen überhaupt ein EAP einführen sollen. Die Gesundheitsversorgung ist in Deutschland doch in erster Linie eine staatliche oder halbstaatliche Aufgabe. Außerdem bezahlen alle Arbeitgeber beträchtliche Beiträge an die Krankenkassen.
Gerade Wirtschaftsunternehmen sind ja sehr stark auf die Effizienz ihrer Tätigkeit ausgerichtet. Und dazu gehört in erster Linie die Effizienz ihrer Beschäftigten. Mitarbeiter, die Sorgen haben, die vom Alltagsmanagement einer familiären Situation gefordert sind oder die einfach nur unter Stress stehen, haben ihren Kopf nicht frei für die Arbeit. Und das kostet die Unternehmen jede Menge Zeit, Geld und Nerven. Und mit einem EAP können Unternehmen hier Abhilfe schaffen. Das Gesundheitswesen kann das nicht leisten, zumal es gerade im Bereich Psychotherapie auch nicht gut funktioniert.
In den letzten Jahren hat das Betriebliche Gesundheitsmanagement gerade auch im Zusammenhang mit dem Thema Demografie einen starken Aufschwung genommen. Was passiert damit aus Ihrer Sicht, sollten wir in wirtschaftliche Turbulenzen kommen?
Mit meiner Prognose liege ich vielleicht etwas quer zum Trend aber ich vermute, dass gerade in Krisen das Betriebliche Gesundheitsmanagement und vor allem ein EAP von den Unternehmen beibehalten wird, weil man verstanden hat, wie wichtig die Beschäftigten sind: In der Krise von 2008 haben wir keinen einzigen Kunden verloren, im Gegenteil, manche Kunden haben gesagt: „Auch wenn wir drastische Einsparungen vornehmen müssen, am EAP halten wir gerade jetzt fest.“
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