Mobiles Arbeiten: große Freiheit oder soziale Erosion?
Die Corona-Pandemie war ein Booster für mobiles Arbeiten. Im Rahmen der Tarifrunde 2022 haben die Chemie-Sozialpartner vereinbart, eine Studie zu diesem Thema in Auftrag zu geben, um die Folgen für den Arbeitskontext genauer betrachten zu können. Deren Ergebnisse stellte Josephine Hofmann vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation am 5. Dezember 2023 im Rahmen der diesjährigen Sozialpartnerwerkstatt für Innovation und Nachhaltigkeit (So.WIN) im HessenChemie Campus vor. Befragt worden waren rund 21.000 Beschäftigte, Betriebsräte und HR-Verantwortliche aus 66 Betrieben der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Damit handelt es sich um die derzeit bundesweit größte Studie zum mobilen Arbeiten. Sie bildet vorrangig die Einschätzung der mobil arbeitenden Beschäftigten ab.
Insgesamt ließ sich feststellen, dass der Wunsch der Beschäftigten nach mobilem Arbeiten stark ist. Knapp drei Viertel der Befragten gaben an, dass diese Arbeitsform Stress reduziere und dazu führe, dass sie Berufliches und Privates besser vereinbaren könnten. Viele berichteten, dass sie zu Hause konzentrierter und produktiver arbeiten. Und doch ist mobiles Arbeiten nicht für alle ausnahmslos attraktiv: Gut ein Drittel derjenigen, deren Tätigkeit mobiles Arbeiten erlauben würde, gehen lieber in den Betrieb. Die am häufigsten genannte Begründung lautet: „Weil ich gern im Betrieb arbeite“ (34,9 Prozent). Auch sehen viele die Gefahr, Beruf und Privatleben nicht genügend trennen zu können.
Das Feedback kommt zu kurz
Laut Hofmann sind die Unternehmen sich sehr klar darüber, dass mobiles Arbeiten gekommen ist um zu bleiben, gleichzeitig gebe es aber auch den Wunsch, die Mitarbeitenden wieder öfter im Betrieb zu sehen. Andernfalls komme das soziale Miteinander zu kurz – und darunter litten Kreativität und Wissensaustausch ebenso wie die Bindung an das Unternehmen: „Die Leute arbeiten zu Hause hoch effektiv, aber mitunter leidet das Interesse am großen Ganzen“, sagte Hofmann. „Die Kontakte außerhalb des eigenen Teams nehmen ab und auch das Feedback durch Vorgesetzte und Kollegen kommt oft zu kurz.“
Tatsächlich gaben rund drei Viertel der befragten Führungskräfte an, dass mobiles Arbeiten die Selbstorganisation ihrer Mitarbeitenden stärke – gleichzeitig aber auch den Kommunikationsaufwand erhöhe. Denn Unterstützungsbedarf oder Konflikte können nicht mehr im täglichen Miteinander im Betrieb wahrgenommen werden, sondern müssen aktiv erfragt und herausgearbeitet werden. Zudem hätten es neue Kolleginnen und Kollegen schwerer, im Unternehmen Fuß zu fassen. „Langfristig müssen Unternehmen die Gefahr von sozialer Erosion im Auge behalten“, sagte Hofmann. „Damit Mitarbeitende wieder gerne ins Büro kommen, müssen allerdings die Rahmenbedingungen stimmen. Teams sollten zum Beispiel dann gemeinsam anwesend sein, wenn sie kreative Prozesse und Projekte vorantreiben wollen.“
Zwei Praxisbeispiele verdeutlichten, wie das Wechselspiel der Arbeitsorte im Betrieb gestaltet werden kann. Sowohl B. Braun Melsungen als auch Merck haben Betriebsvereinbarungen abgeschlossen, die den Wünschen der Mitarbeiter nach mobilem Arbeiten entgegenkommen, aber auch die Notwendigkeit von Arbeit in Präsenz berücksichtigen. Bei Merck werden Details dazu auf der Ebene von Teamvereinbarungen konkretisiert: So könne man den unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Arbeitsebenen besser gerecht werden als mit pauschalen Vorgaben.
Unternehmensziele im Auge behalten
Auch Sabine Süpke, Landesbezirksleiterin der IGBCE, betonte im Abschlussgespräch, dass es keine pauschalen Lösungen gebe, sondern die jeweils richtige Balance zwischen mobilem Arbeiten und Präsenz gefunden werden müsse. Sie verdeutlichte dies mit einem Grundsatz aus der Welt des Designs: „Form follows Function“ (die Form folgt der Funktion) – das müsse auch hier gelten. Die Aufgaben und Arbeitszusammenhänge in den jeweiligen Teams sollten als Grundlage genommen werden, um gute Lösungen für alle Beteiligten zu finden.
Dirk Meyer, Hauptgeschäftsführer von HessenChemie, äußerte zum Abschluss der Diskussion einen Wunsch: „Bei allem Verständnis für die individuellen Bedürfnisse – die Verantwortung des Einzelnen für die gesamte Organisation und deren Ergebnisse darf nicht verloren gehen!“ In die Überlegungen müssten zum Beispiel auch Kundenwünsche einbezogen werden. „Führungskräfte dürfen kein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie ihre Mitarbeitenden wieder mehr vor Ort haben wollen“, betonte Meyer. „Wir sind immer bereit, uns an neue Gegebenheiten anzupassen – aber es ist nötig, beide Seiten der Medaille zu sehen.“
Über So.WIN
Die Sozialpartnerwerkstatt für Innovation und Nachhaltigkeit (So.WIN) ist eine Einrichtung von Arbeitgebern und Gewerkschaften der chemischen Industrie, die in dieser Form seit 2015 existiert. Ihre Vorgängerorganisation „Gesellschaft zur Information von Betriebsräten über Umweltschutz in der chemischen Industrie“ (GIBUCI) wurde 1987 gegründet.