Fertility Benefits: Dem Arbeitgeber auf einzigartige Weise verbunden
Jedes sechste Paar in Deutschland ist von Unfruchtbarkeit betroffen. Rund zehn Prozent aller Paare bleiben ungewollt kinderlos. Ungewollte Kinderlosigkeit, Fehlgeburten oder Kinderwunschbehandlungen stellen für die Betroffenen eine enorme Belastung dar – psychisch und im Falle von Kinderwunschbehandlungen auch finanziell.
Nicht ohne Folgen für Unternehmen, denn solche schwierigen Lebensphasen wirken sich häufig auf Motivation, Leistungsfähigkeit und die mentale Gesundheit aus. Unternehmen wie Merck oder die Beratungsunternehmen Kearney und McKinsey unterstützen ihre Mitarbeitenden deshalb in dieser schwierigen Zeit durch eine Reihe unterschiedlicher Angebote. Diese reichen von kostenlosen Informationen und Beratungen bis zu einem finanziellen Zuschuss für Behandlungen.
Über Fertility Benefits haben wir mit Julia Reichert, Co-Founderin und CEO von Onuava, gesprochen.
Liebe Frau Reichert – vielleicht zum Einstieg in wenigen Sätzen: Was sind Fertility & Familiy Building Benefits und wie sind Sie dazu kommen?
Fertility & Family Building Benefits sind Dienstleistungen, mit denen Unternehmen ihre Mitarbeitenden rund um die Familiengründung und bei allen Aspekten der Frauengesundheit unterstützen, d.h. zum Beispiel bei unerfülltem Kinderwunsch, einer Fehlgeburt oder auch in den Wechseljahren. Häufig umfasst die Unterstützung den Zugang zu medizinischen Informationen, psychologischer oder auch ärztlicher Beratung und/oder die Übernahme von Behandlungskosten.
Ich habe selbst drei Kinder durch eine Kinderwunschbehandlung und weiß aus eigener Erfahrung, wie belastend diese Lebensphase sein kann. Es ist für mich ein Herzensthema, dass alle Menschen – auch bei der Arbeit und durch ihren Arbeitgeber – in dieser Situation optimale Unterstützung bekommen.
Schwierige Lebensphasen besser überwinden
Und worin besteht der Bezug zum Arbeitsleben? Ist das nicht Privatsache?
Ja und nein. Natürlich ist dies ein sehr persönliches Thema. Aber ein unerfüllter Kinderwunsch, eine Fehlgeburt oder auch die Wechseljahre können sich negativ auf die Arbeit und Leistungsfähigkeit auswirken. Arbeitgeber können solche Diagnosen und Tatsachen nicht ändern, aber sie können dafür sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese Lebensphasen schneller und gesünder bewältigen. Wir bringen also das Thema nicht in die Arbeitswelt, es ist bereits da. Wir sprechen darüber und lenken es bei Bedarf in die richtige Richtung.
In Deutschland ist fast jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 Jahren ungewollt kinderlos. Für die Erfüllung des Kinderwunsches sind diese Paare auf medizinische Hilfe angewiesen. Die reproduktionsmedizinische Behandlung stellt für die Betroffenen nicht nur finanziell, sondern auch körperlich und seelisch eine erhebliche Belastung dar.
BMFSFJ zur Bundesinitiative ‚Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit‘
Fertility & Family Building Benefits sind in den USA oder Großbritannien deutlich weiterverbreitet als in Deutschland. Was sind die Gründe dafür und was lässt sich daraus für deutsche Arbeitgeber lernen?
In der Tat. In den USA gehen 47 Prozent der Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten so weit, dass sie ihren Mitarbeitenden Kinderwunschbehandlung bezahlen (Mercer – Family friendly benefits take off). In Großbritannien sind es inzwischen rund 17 Prozent der Unternehmen (HRreview – Two-thirds expect their employer to pay for IVF). In Deutschland haben wir ein etwas anderes Gesundheitssystem und Arbeitgeber sehen sich tendenziell weniger in der Verantwortung, was Gesundheitsleistungen betrifft. In der Realität übernehmen die meisten Krankenkassen in Deutschland aber auch nur einen Bruchteil der Kosten und das bei weitem nicht für alle Personen und für alle Behandlungen.
Die Arbeitgeber in den USA und in Großbritannien versprechen sich davon natürlich auch einiges: Etwa, dass Krankenstände und ungeplante Abwesenheiten sinken, aber auch dankbare und loyale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die einen familienfreundlichen Arbeitgeber wertschätzen.
Vielleicht können wir noch einmal ein paar Zahlen und Fakten beleuchten: Was ist überhaupt das Problem für die Betroffenen, wie groß ist die Personengruppe, über die wir reden und wie wahrscheinlich ist es, dass es in meinem Unternehmen Personen gibt, für die Fertility Benefits relevant sein könnten?
Ungefähr jede sechste Person ist von Unfruchtbarkeit betroffen. Das sind die weltweiten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und sie steigen. Mehr als 80 Prozent der Betroffenen leiden aufgrund von Fruchtbarkeitsproblemen oder während der Behandlung unter ersten Anzeichen von Depressionen (Fertility Network UK – The impact of fertility challenges and treatment, October 2022) und 85 Prozent geben an, dass sich die Kinderwunschreise negativ auf ihre Arbeit auswirkt.
Kinderwunschbehandlungen sind für viele verschiedene Personengruppen relevant, nicht nur für heterosexuelle Paare. Dazu gehören auch alleinerziehende Mütter, LGBTQ+-Paare und Personen, die Social Freezing in Anspruch nehmen möchten, d. h. das Einfrieren von Eizellen für eine spätere Verwendung.
Unterm Strich bedeutet das, dass etwa 16 Prozent der Bevölkerung in mit diesem Thema konfrontiert sind. Etwa 10 Prozent aller Paare zwischen 25 und 59 Jahren in Deutschland bleiben trotz aller Versuche ungewollt kinderlos (BMFSFJ – Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit).
Was Arbeitgeber tun können
Auf welchen Ebenen können Arbeitgeber hierbei unterstützen?
Ein erster wichtiger Schritt ist die Aufklärung und Sensibilisierung, z.B. durch Führungskräfteschulungen, die die Belastungen eines (unerfüllten) Kinderwunsches oder der Wechseljahre deutlich machen – das sorgt immer wieder für Aha-Erlebnisse.
Der nächste Schritt kann der Zugang zu gesicherten Informationen und individueller fachlicher Beratung sein. Unser Unternehmen unterstützt auf der gesamten Kinderwunschreise. Wir sind klinikunabhängig und rein arbeitgeberfinanziert, kennen aber die Kliniklandschaft sehr gut und können bei der Auswahl der geeigneten Klinik beraten. Von gezielter fachlicher Beratung, Zweitmeinung, aber auch begleitender Ernährungsberatung bis hin zu Kinderwunsch-Coaching oder psychologischer Unterstützung haben wir in unserem Expert*innen Pool für alle Fragen die richtigen Ansprechpartner*innen.
Entscheidet sich ein Unternehmen, seine Mitarbeitenden auch bei den Kosten der Kinderwunschbehandlung zu unterstützen, übernehmen wir auch die finanzielle Abwicklung. Dies geschieht dann gegenüber dem Arbeitgeber (in der Regel) anonym. Darüber hinaus erarbeiten wir mit den Unternehmen auf Wunsch auch eine „Fertility Policy“ oder eine „Menopause Policy“.
Kosten von Kinderwunschbehandlungen
Wenn das Unternehmen mehr als nur über Aufklärung und Beratung unterstützen will: Was sind die Gesamtkosten einer Behandlung und wer ist an der Finanzierung beteiligt?
Die Höhe der Selbstbeteiligung, die ein Paar oder eine Person im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung zu tragen hat, ist sehr unterschiedlich.
Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen bei verheirateten heterosexuellen Paaren, bei denen keine Samenspende notwendig ist und die Frau jünger als 40 und der Mann jünger als 50 Jahre ist, 50 Prozent der Basiskosten (ohne die teilweise medizinisch sehr sinnvollen Ergänzungen) für bis zu drei Versuche. Das sind schon sehr viele Einschränkungen. Ist ein Partner privat und der andere gesetzlich versichert, wird es noch komplizierter und kann dazu führen, dass keine Krankenkasse zahlt. Manche Krankenkassen übernehmen wiederum freiwillig mehr – z.B. einen vierten Versuch oder Kryozyklen – aber auch das ist meist wieder an Bedingungen geknüpft.
Hinzu kommen dann in 12 Bundesländern – Hessen gehört glücklicherweise dazu – noch Landeszuschüsse und dann gibt es auch noch einen Bundeszuschuss, die gemeinsam 50 Prozent des verbleibenden Selbstbehalts decken können. Doch selbst bei einem „Muster-Paar“, das all diese Förderungen bekommt, bleiben bei 3 bis 4 Versuchen, die es im Mittel bis zu einer erfolgreichen Schwangerschaft braucht, schnell 10.000 Euro Selbstbehalt. Viele Paare müssen deshalb zwangsläufig nach drei von der Krankenkasse mitunterstützen Zyklen aufhören, da dann häufig alle Förderungen wegfallen.
Ist eine Frau alleinstehend oder ist ein Paar Selbstzahler, werden gar keine Kosten übernommen, und der Selbstbehalt steigt nach unseren Berechnungen für die gleiche Versuchsanzahl schnell auf über 30.000 Euro. Das finanzielle Wagnis ist dann deutlich größer.
Sie haben erwähnt, dass manche Unternehmen auch gleich eine Fertility Policy einführen. Was kann deren Inhalt sein?
Unter dem Begriff „Fertility Policy“ wird ein Bündel von Maßnahmen verstanden, die typischerweise in einer Betriebsvereinbarung zusammengefasst sind oder eine bestehende Betriebsvereinbarung ergänzen und darauf abzielen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihrem individuellen Weg der Familiengründung bestmöglich zu unterstützen. Beispiele sind die Freistellung nach einer Fehlgeburt oder die Freistellung für Behandlungstermine im Kinderwunschzentrum für beide Partner. Auch das Aussetzen von Reiseaktivität oder das Ermöglichen von flexiblen Arbeitszeiten oder von Homeoffice, über das vereinbarte Pensum hinaus, kann dazu zählen. Einer ähnlichen Logik folgt die „Menopause Policy“, in der Unternehmen ihre Unterstützungsmaßnahmen für Frauen in den Wechseljahren zusammenfassen.
Welche Rolle werden Fertility Benefits Ihrer Meinung nach zukünftig im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt spielen?
Fertility Benefits werden nach meiner Einschätzung auch in Deutschland in wenigen Jahren ganz selbstverständlich zum Portfolio der Nebenleistungen attraktiver Arbeitgeber gehören, und der Fachkräftemangel ist sicherlich ein Katalysator dafür.
Herzlichen Dank für das Gespräch!