Chemie-Tarifabschluss 2024: Kluger Kompromiss in schwierigen Zeiten

Die Tarifverhandlungen in der chemisch-pharmazeutischen Industrie waren ein langes und intensives tarifpolitisches Ringen. Doch das Ergebnis verdeutlicht einmal mehr: die Chemie-Sozialpartnerschaft funktioniert – und das nicht nur auch, sondern gerade in schwierigen Zeiten.

Denn ein etwas tiefer gehender Blick auf das letztlich vereinbarte Tarifpaket macht deutlich, wie sinnbildlich die einzelnen Bestandteile für die Vorteile des kooperativen Ansatzes stehen, den Arbeitgeberseite und Gewerkschaft in der Chemie seit Jahrzehnten verfolgen.

Entgeltkompromiss mit Weitblick

So steigen zunächst die Entgelte über eine Laufzeit von 20 Monaten über zwei Stufen an, nach zwei Leermonaten ab 1. September 2024 um 2,0 Prozent, und um weitere 4,85 Prozent ab 1. April 2025. In gleichem Maße steigen die Ausbildungsvergütungen.

In diesem Zusammenhang trägt die Erhöhung der Entgelte den Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung, eine spürbare materielle Abfederung des in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Preisdrucks zu erreichen.

Gleichzeitig verhindern die Leermonate und das stufenweise Vorgehen jedoch eine punktuelle tarifliche Überlastung der Unternehmen. Zusätzlich berücksichtigt die Möglichkeit, bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten die zweite Stufe der Entgelterhöhung verschieben zu können, die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Betriebe, insbesondere vor dem Hintergrund eines weiterhin fragilen wirtschaftlichen Umfelds. Nicht zuletzt verschafft die bis in das Jahr 2026 hineinreichende Laufzeit den Arbeitgebern Planungssicherheit.

Stärkung der Tarifbindung

Das zweite markante Charakteristikum der Chemie-Sozialpartnerschaft, ihre Lösungsorientierung und Einigungsfähigkeit, zeigt sich insbesondere beim Thema der kontrovers diskutierten Stärkung der Tarifbindung, und der Forderung der Gewerkschaft nach einer Besserstellung für ihre Mitglieder.

Im Ergebnis erhalten aktive Mitglieder der IGBCE ab 2025 einen Zeitausgleich im Umfang von einem Arbeitstag pro Jahr für ihr gewerkschaftliches Engagement. Für 10, 25, 40 oder 50 Jahre Gewerkschaftsmitgliedschaft erhalten sie im entsprechenden Jahr einen weiteren Arbeitstag als zusätzlichen Zeitausgleich.

Mit einer solchen Vorteilsregelung für Gewerkschaftsmitglieder beschreiten die Chemie-Sozialpartner innerhalb der deutschen Flächentarifvertragslandschaft einen neuen Weg, der die Wertschätzung für Sozialpartnerschaft und Tarifbindung zum Ausdruck bringt. Und die Fortschreibung der Chemie-Schlichtungsregelung sendet hierbei das klare Signal, dass dieses System des sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleichs auch weiterhin in dieser besonderen Form erhalten bleiben soll.

Modernisierung des Tarifwerks

Vorangehen wollen Arbeitgeberseite und die Gewerkschaft auch mit ihrem strategischen Prozess zur Modernisierung der Tarifverträge der chemischen Industrie. Bis zum Jahr 2030, so das ehrgeizige Ziel, sollen die tarifvertraglichen Regelungen an die Herausforderungen sich ändernder Strukturen in Arbeitswelt und Industrie angepasst werden. Perspektivisch sollen die Chemie-Tarifverträge vor allem einfacher und schlanker werden.

Erste Schritte hierzu sind auch in dieser Tarifrunde schon erfolgt, wie beispielsweise durch eine Vereinheitlichung der Höhergruppierungsregeln, eine erste Aktualisierung von Ausbildungs- und Berufsbezeichnungen, und rechtlicher Anpassungen in Verbindung mit einer zunehmenden Digitalisierung der Tarifverträge.

Fachkräftesicherung in Zeiten der Transformation

Dennoch verlieren, bei aller Hinwendung auf neue Themenfelder, die Chemie-Sozialpartner nicht ihre bisherigen Herausforderungen aus dem Blick. So fördern sie zukünftig über den Unterstützungsverein der Chemischen Industrie (UCI) bundesweit die Einrichtung regionaler „Fachkräfteradare“. Über diese Online-Plattformen können Betriebe, die ihre Mitarbeitenden und Ausbildungsabsolventen nicht mehr beschäftigen können, diese anderen Unternehmen in der Branche weiterempfehlen, die nach Fachkräften suchen. So können Talente in der chemisch-pharmazeutischen Industrie gehalten und die Sozialpartnerschaft gestärkt werden.

Im Ergebnis steht somit ein Abschluss, der auf klassische Weise verbindende und ausgleichende Elemente in den Vordergrund stellt, und diese Prinzipien im gleichen Atemzug erfolgreich auf neue tarifpolitische Themenfelder und Weiterentwicklungen anzuwenden vermag.

Gleichzeitig ist dieses Tarifergebnis ein Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. Diese ist nicht, das ist die wohl wichtigste Botschaft dieser Tarifrunde, Teil irgendeines Problems – sondern deren Lösung.

Ruben Höpfer

Ruben Höpfer ist Diplom-Volkswirt und seit 2011 bei HessenChemie als Referent Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftsstatistik tätig. Zuvor war er Referent eines Industrie- und Arbeitgeberverbandes. Seine Kernkompetenzen liegen im Bereich der Analyse und Bearbeitung wirtschaftlicher, wirtschaftsstatistischer und arbeitsmarktpolitischer Fragen, insbesondere in Bezug auf tarifpolitische Auswirkungen für Unternehmen.

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