Vom Sinn und Unsinn von Fehlzeiten-Projekten
Das Gesundheitsmanagement wird in vielen Unternehmen als Maschine zur Senkung von Fehlzeiten begriffen. Was an dieser Erwartung förderlich und verfehlt ist ist Thema dieses Beitrags.
Vor einigen Monaten fiel der Startschuss für unseren Lehrgang zum Betrieblichen Gesundheitsmanager. Über ein dort heiß diskutiertes Thema möchte ich hier schreiben, das Phänomen der Fehlzeiten. Denn gleich bei der ersten Abfrage an unsere Gesundheitsmanager, schilderten diese eine eigenartige Erwartungshaltung im eigenen Unternehmen. Der subjektive Eindruck war, dass das betriebliche Gesundheitsmanagement oft als – Zitat – „AU-Tage-Senkungsmaschine“ (AU steht für Arbeitsunfähigkeitstage) wahrgenommen wird. Wenn das ganze Gesundheitsmanagement einen wirklich handfesten, d.h. betriebswirtschaftlich messbaren, Sinn haben soll, dann bitte den, spürbar die Statistik der Arbeitsunfähigkeitstage zu verbessern, d.h. nach unten zu senken!
Der betriebswirtschaftliche Blick auf Fehlzeiten
Und tatsächlich können mit krankheitsbedingter Abwesenheit aus Unternehmenssicht eine ganze Reihe unterschiedlicher Kostenpositionen zusammenhängen:
Direkte Lohnkosten
Versicherungsprämien für Krankentagegeld
Kosten für zusätzliches Personal
Zusätzlicher administrativer Aufwand
Zusätzlicher organisatorischer Aufwand (z.B. Einarbeitung von Aushilfskräften)
Zusätzliche Belastung von Arbeitskollegen und Vorgesetzten
Verluste an Produktivität
Evtl. erhöhte Fluktuation durch unzufriedene Arbeitskollegen
Evtl. Kundenverlust
Grundsätzlich ist gegen diesen Wunsch nichts einzuwenden, da hieran auch zu einem wesentlichen Teil die Akzeptanz der Geschäftsführung hängt. Was aber in Frage gestellt werden kann ist, ob Fehlzeiten zu reduzieren wirklich als einziges oder zumindest vorrangiges Ziel eines Gesundheitsmanagement gelten muss bzw. der Gesundheitsmanager sich diese Vorgabe zu eigen machen sollte? Darum soll es hier gehen. Weil Fehlzeiten als ‚hartes‘ Kriterium gelten (dazu später noch ein paar Überlegungen), drängen diese zumindest in den Vordergrund.
Fehlzeiten zu reduzieren ist nur eines von verschiedenen Gesundheitszielen
Wie die folgende Übersicht zeigt, gibt es auch andere, gleichberechtigte und auch ‚weiche‘ Kriterien an denen betriebliche Gesundheitsziele festgemacht werden können. Worin kann die Motivation liegen, eher weiche Gesundheitsziele anzustreben? Ein Beispiel: Viele unserer Mitgliedsunternehmen kommen aus dem Pharmabereich oder der Medizintechnik. Für diese Unternehmen ist die Förderung der psychischen, physischen und sozialen Gesundheit der Beschäftigten ganz eng an das Unternehmensimage mit dessen Produkten gebunden. Die Senkung von Fehlzeiten wird auch hier sehr wahrscheinlich (in bestimmten Unternehmensteilen) verfolgt, ist aber nicht der einzige Aufhänger für das Gesundheitsmanagement. Das Gesundheitsmanagement wird vielmehr als wesentlicher Faktor für die Glaubwürdigkeit des eigenen Geschäfts gesehen: Ein Gesundheitsunternehmen mit kranken Beschäftigten, wenn man das so allgemein sagen will, macht sich nicht gut.
Fehlzeiten zu reduzieren ist nur ein Ziel, das mit einem Gesundheitsmanagement verfolgt werden kann. Das oder die Ziele des betriebliche Gesundheitsmanagements ausreichend zu präzisieren, tun die wenigsten Unternehmen.
Daher mein erstes Sinn/Unsinn-Fazit – Sinn: Die mit Fehlzeiten verbundenen Kosten stellen eine echte Belastung dar und können nicht ignoriert werden. Die Analyse und den Umgang mit Fehlzeiten ins betriebliche Gesundheitsmanagement aufzunehmen ist absolut sinnvoll.
Unsinn: Fehlzeiten zu reduzieren ist nur eines von verschiedenen Gesundheitszielen – welche Ziele mit welchen Erfolgschancen verfolgt werden, sollte vor der Einführung und Ausweitung eines Gesundheitsmanagements diskutiert werden. In dieser Diskussion ist zu berücksichtigen, dass das Ziel der Fehlzeitenreduzierung nur nachhaltig erreicht werden kann, wenn harte und weiche Kriterien gleichzeitig angestrebt werden. Die Senkung von Fehlzeiten kann erfolgreich nicht isoliert vom Gesundheitsmanagement-‚System‘ erreicht werden.
Fehlzeiten sind nicht gleich Fehlzeiten – die Hausaufgaben
Fehlzeiten, Abwesenheiten, Arbeitsunfähigkeitstage, Absentismus, Präsentismus, krankheitsbedingte Abwesenheit, motivationsbedingte Abwesenheit etc. – die Auflistung dieser Begrifflichkeiten zeigt, es gibt einiges zu klären, möchte man das Phänomen Fehlzeiten richtig verstehen und darüber diskutieren (näheres dazu im empfehlenswerten Lehrbuch Betriebliches Fehlzeiten-Management von Uwe Brandenburg und Peter Nieder). Und auch wenn im Betrieb die Begriffe einheitlich verwendet werden, liegen in der Berechnung immer noch genügend Fallstricke.
Sinn: Die bei Fehlzeiten-Projekten verwendeten Begrifflichkeiten sollten eindeutig festgelegt und verwendet werden. Die Diskussion z.B. über den Unterschied von Absentismus und Präsentismus hilft den Beteiligten das Phänomen der Fehlzeiten besser zu verstehen, Missverständnisse zu klären und Erwartungen an das Projekt zu kalibrieren.
Unsinn: Eine fehlende oder verzerrte Datenbasis (siehe folgendes Kapitel) ohne ein gemeinsames Begriffsverständnis führt zum Tohuwabohu. Die betrieblichen Akteure reden ‚in Zungen‘.
Wie werden Fehlzeiten gemessen?
Welche Tage werden der Formel als Basis zugrunde gelegt? Sind dies Kalendertage, Arbeitstage (5-Tage-Arbeitswoche), Fabriköffnungstage (Arbeitstage ohne Sonnabend/Sonntag gemäß individuellem Schichtmodell des Arbeitnehmers) oder bezahlungsrelevante Tage (Tage an dem eine Arbeitsleistung des Mitarbeiters geplant und erwartet wird). Werden Teilzeitkräfte vollzeitverrechnet oder einigt man sich auf eine Kopfzahlerfassung? Sollen Kuren, Heilverfahren und Schonzeiten in die Betrachtung einbezogen werden? Sollen Auszubildende und leitende Angestellte (sehen Sie dazu beispielsweise die AU-Auswertungen der jährlich erscheinenden Berichte der (Betriebs-)Krankenkassen) aufgrund ihrer Sonderstellung erfasst werden oder verzerren diese das Bild mehr als es zu erhellen? Sollen durch Arbeitsunfall Arbeitsunfähige bzw. Langzeiterkrankte (Klassiker: Skiunfall) einbezogen werden oder im Nachhinein, da es ja irgendwann um die durch das Unternehmen beeinflussbaren Faktoren geht, mühsam wieder aus der Gesamtbetrachtung herausgerechnet werden? Sie sehen… jede Menge Hausaufgaben, die erst einmal für einen anständigen Fehlzeiten-Report erledigt werden müssen und nach meiner Erfahrung keine Selbstverständlichkeit darstellen. (Der betriebliche Gesundheitsbericht ist die Ausbaustufe eines rein auf Fehlzeiten abzielenden Instrumentariums und führt mehrere Datenquellen zusammen.)
Was messen eigentlich Fehlzeiten? Wirklichkeit und Erwartung
Denn Fehlzeiten sind nur auf den ersten Blick hart messbar, auch wenn Sie die oben beschriebenen Hausaufgaben richtig machen. Blickt man genauer hin, wird die Lage unübersichtlicher, denn Fehlzeiten-Projekte können vielleicht(!) Fehlzeiten reduzieren, müssen aber noch lange nicht zu einem verbesserten Gesundheitszustand führen oder diesen belegbar machen. Genau diese Hoffnung wird aber mit der Kennzahl Fehlzeiten immer wieder verbunden – zu Unrecht. Fehlzeiten zeigen an, zu welchen Zeitpunkten der betreffende Mitarbeiter keine Arbeitsleistung erbringen kann (weil er eben abwesend ist) – nicht mehr, nicht weniger. Geringe Fehlzeiten sind nicht gleichbedeutend mit einer gestiegenen Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz. Im schlechtesten Fall wird die Krankheit oder Krankheitsanzeichen durch Präsentismus hinausgezögert, verschleppt und kommt mit größerer Wucht durch die Hintertür wieder rein.
Dass die Kennzahl in dieser Art missverstanden, missinterpretiert oder mit falschen Erwartungen überfrachtet wird, ist natürlich nicht die Schuld dieser armen Zahl. Die betrieblichen Akteure sollten einfach nüchtern mit dieser Kennzahl und ihrer Aussagekraft umgehen. Außer acht gelassen werden darf sie auf keinen Fall, da sie ein spätes Signal für ein gesundheitliches Ungleichgewicht, einen unbefriedigenden Zustand in der Arbeitssituation sein kann.
Wer ist die Zielgruppe für Fehlzeiten-Projekte?
Die Antwort ernsthafter Fehlzeiten-Projekte lautet: Alle Mitarbeiter, denn auch Mitarbeiter mit hoher Anwesenheit sind schließlich nicht vor Fehlzeiten gefeit, weshalb es für solche Mitarbeiter – als ein Beispiel – Anerkennungsschreiben gibt (was vor dem Hintergrund von Präsentismus-Befürchtungen wieder in Frage gestellt werden kann). Ist das die betriebliche Realität? – Vermutlich weniger. Auch wenn ich ausdrücklich keine Jagd auf Mitarbeiter mit hohen Fehlzeiten erlebe, Auslöser sind trotzdem oft Mitarbeiter, Teams oder ganze Abteilungen, die bereits hohe Krankenstände aufweisen. So hangelt man sich oft von einem zum nächsten ‚Brandherd‘, ohne Fehlzeiten-Projekte umfassend und auch präventiv anzulegen, sowie mit den übrigen Aktivitäten des Gesundheitsmanagement zu vernetzen.
„In Fehlzeiten-Projekten darf die Kennzahl der Fehlzeiten nicht der alles entscheidende Maßstab sein. Ansonsten bleiben solche Projekte permanent reaktiv, da sie nur bei fehlzeitenauffälligen Mitarbeitern ansetzen. Die Ansteckungsgefahr von ‚Problemfällen‘ auf alle anderen Mitarbeiter – die den Großteil der Belegschaft ausmachen – wird dadurch zum Beispiel vernachlässigt.“
Sinn: Dort wo hohe Fehlzeiten vorhanden sind sollte man sich kümmern.
Unsinn: Gesunkene Fehlzeiten bei diesen ‚Problemfällen‘ bedeutet nicht, dass es nicht wieder zu solch hohen Fehlzeiten kommt oder ein Fehlzeiten-Projekt sein Ziel erreicht hat. Auch bei begrenzten Ressourcen sollten präventive Maßnahmen auch zu Fehlzeiten-Projekten zählen.
Wie wird der Erfolg von Fehlzeiten-Projekten gemessen?
Ein letzter Aspekt der viele Fehlzeiten-Projekte zu schwierigen Angelegenheiten macht ist die Erfolgsmessung. Diese hängt wieder eng mit der Messung von Fehlzeiten zusammen – ein Beispiel: