Telefonische Krankschreibung – Herausforderungen und Potenziale aus Arbeitgebersicht

Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bedeutet für Arbeitgeber eine hohe wirtschaftliche Belastung. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln e.V. (IW) mussten die Arbeitgeber im Jahr 2022 gut 70 Milliarden Euro für die Entgeltfortzahlung ihrer erkrankten Beschäftigten aufbringen – so viel wie nie zuvor. Zum einen waren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 2022 häufiger krank, zum anderen stiegen ihre nominalen Bruttoentgelte. Für das Jahr 2023 ist damit zu rechnen, dass die Kostenbelastung der Unternehmen weiter wächst. (1)

Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist Teil der Lohnzusatzkosten und damit ein wesentlicher Faktor für die Beschäftigung in Deutschland. Für den Unternehmensstandort Deutschland ist es von erheblicher Bedeutung, dass es in den kommenden Jahren nicht zu einem weiteren Anstieg der Krankenstände und damit verbundenen Kosten kommt. Deshalb ist es wichtig, dass klare, belastbare und nachvollziehbare Regeln existieren, nach denen Ärzte eine Arbeitsunfähigkeit feststellen und bescheinigen dürfen. Denn die ordnungsgemäße Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (kurz: AU-Bescheinigung) ist in der Regel die Voraussetzung dafür, dass der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leisten muss.

Änderung der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

In der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) sind genau diese Regeln festgelegt, nach denen Ärzte eine Arbeitsunfähigkeit prüfen und bescheinigen dürfen. Nach der AU-RL galt bisher die unmittelbar persönliche Untersuchung als „Goldstandard“. Daraus resultierte auch der hohe Beweiswert einer AU-Bescheinigung, der nur in Ausnahmefällen erschüttert werden kann. (2)

Trotz des sich bewährten Goldstandards wurde hiervon abgewichen und im Jahr 2020 die Videosprechstunde eingeführt. Nach § 4 AU-RL kann die Arbeitsunfähigkeit auch im Rahmen einer Videosprechstunde festgestellt werden. Diese Regelung gilt seit dem 7. Oktober 2020 dauerhaft und ist keine Sonderregelung der Corona-Pandemie.

Während der Corona-Pandemie wurde zudem die Möglichkeit eingeführt, sich bei Atemwegserkrankungen ohne schwere Symptomatik per Telefon krankschreiben zu lassen. Diese Sonderregelung galt bis zum 31. März 2023. Schon damals gab es Appelle von verschiedenen Verbänden, z.B. des Deutschen Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes oder des Verbraucherzentrale Bundesverbandes, die Regelung beizubehalten, weil angesichts des enormen Versorgungsdrucks in den Praxen nur so die Versorgung der Patientinnen und Patienten sicherzustellen sei. (3)

Der Gesetzgeber beauftragte schließlich den Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Juli 2023 mit einer Ergänzung der AU-RL. Die Feststellung von Arbeitsunfähigkeit bei einer Erkrankung, die keine schwere Symptomatik vorweist, sollte auch nach telefonischer Anamnese nun dauerhaft ermöglicht werden. Die BDA konnte ein Recht zur Stellungnahme und eine mündliche Anhörung im Unterausschuss erreichen, dort wurden die Bedenken der Arbeitgeber vorgetragen. Die aufgrund der besonderen Umstände der Corona-Pandemie eingeführte Sonderregelung sollte nach Ansicht der BDA weder fortgeführt noch gar ausgeweitet werden.

Im Rahmen der mündlichen Anhörung im entsprechenden Unterausschuss hat die BDA unter anderem auf Folgendes hingewiesen:

  • dass Erfahrungen von Unternehmen und Ärztekammern gezeigt haben, dass es während der Pandemie zu unrechtmäßigen Angeboten von telefonisch ausgestellten AU-Bescheinigungen gekommen sei;

  • dass einer ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung von der Rechtsprechung ein hoher Beweiswert zugesprochen werde, weshalb die telefonische Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nachrangig zur persönlichen Untersuchung und zur Videosprechstunde und nur in engen Grenzen möglich sein solle, um die Aussagekraft von AU-Bescheinigungen zu erhalten; 

  • dass die telefonische Feststellung auf einen Zeitraum von bis zu drei Kalendertagen begrenzt werden sollte, weil die telefonische Feststellung in erster Linie nur bei Erkrankungen mit voraussichtlich kurzer Dauer und regelmäßig milderem Verlauf in Frage komme; 

  • dass die telefonische Feststellung nicht öfter als zweimal pro Jahr ausgestellt werden sollte, damit bei häufigeren Fällen eine schwere Erkrankung nicht unentdeckt bleibe.

Die BDA forderte auch, dass Krankenkassen und Arbeitgeber aus der Bescheinigung bzw. aus dem Datensatz der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erkennen müssen, aufgrund welcher Art von Untersuchung die Bescheinigung ausgestellt wurde.

Mit Beschluss vom 7. Dezember 2023, der am gleichen Tag in Kraft trat, änderte der G-BA die AU-RL (4) und veröffentlichte zudem die tragenden Gründe für den Beschluss(5).

Die Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit nach telefonischer Anamnese ist nun in engen Grenzen und zeitlich befristet möglich. Zusammengefasst gilt Folgendes:

  • Vorrang der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen der ausschließlichen Fernbehandlung einer Videosprechstunde vor einer telefonischen Anamnese;

  • Feststellung und Ausstellung nur für persönlich in der Praxis bekannte Patienten;

  • Feststellung und Ausstellung nur für Erkrankungen mit voraussichtlich kurzer Dauer und regelmäßig milderem Verlauf;

  • Ausstellung nur für einen Zeitraum von maximal fünf Tagen;

  • Ausschluss von Folgebescheinigungen;

Die Reaktionen hierauf fielen unterschiedlich aus.

Der Bundesgesundheitsminister begrüßte die Neuregelung und sprach in der Presse von einer wesentlichen Entlastung für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Ärzte (6). Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband sprach von einer echten Entlastung für die Hausarztpraxen und einer Erleichterung für die Patientinnen und Patienten (7). Die Bundesärztekammer erklärte ebenfalls, dass die Neuregelung zu einer Entlastung der Arztpraxen führen werde und wies auch auf das sinkende Infektionsrisiko hin (8).

Die BDA hingegen hält die neuerliche telefonische Krankschreibung für eine Fehlleistung der Gesundheitspolitik. Im teuersten Gesundheitswesen der Welt sollen Krankschreibungen per Telefon erfolgen, weil die Politik die Hausärzteversorgung jahrelang vernachlässigt habe. Damit werde eine Krankschreibung qualitativ entwertet, obwohl sie Grundlage für eine Lohnfortzahlung ist. Dies werde auch einen negativen Einfluss auf den Betriebsfrieden haben, da eine Untersuchung in einer Praxis stets Grundlage für eine gesicherte Diagnose-Stellung war. (9)

(Bild: Shutterstock)

Missbrauchsrisiko und Fehlerniveau werden steigen

Ja, die Einführung der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auf rein telefonischem Wege wird die Hausärzte vermutlich entlasten und Ansteckungsrisiken in überfüllten Praxen möglicherweise vermeiden helfen. Andererseits ist aus Arbeitgebersicht die AU-Bescheinigung der wichtigste Nachweis für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Nach der Rechtsprechung kommt ihr ein hoher Beweiswert zu. Das heißt, der Arbeitgeber muss sich auf eine AU-Bescheinigung verlassen können, da er schließlich auf dieser Basis Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leistet. Angesichts der neuen unterschiedlichen Behandlungswege, auf denen Ärzte nach der neuen AU-RL die Arbeitsunfähigkeit feststellen können, steigt aber nach diesseitiger Auffassung sowohl das Missbrauchsrisiko als auch das Fehlerniveau im Rahmen der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Zurecht hat Dr. Susanne Wagenmann (BDA) in der mündlichen Anhörung vor dem Unterausschuss darauf hingewiesen, wie wichtig der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient ist:

„Je näher der persönliche Kontakt zur Ärztin oder zum Arzt ist, desto größer ist das Sensorium, um hier eine Arbeitsunfähigkeit feststellen zu können. Sie können abhören; sie können die Farbe der Haut anschauen; sie können im Zweifelsfall die Person auch anfassen. Schon bei der Videosprechstunde, aber erst recht per Telefon geht ein Teil dieses Sensoriums verloren. Deswegen ist es aus unserer Sicht vollkommen richtig, dass es vorgesehen ist, dass die Videosprechstunde beziehungsweise die persönliche Untersuchung Vorrang vor einer telefonischen Feststellung hat und dass die Telefonie zur Feststellung nur für persönlich bekannte Patientinnen und Patienten möglich sind.“ (10)

Da im Rahmen der telefonischen Anamnese und der Videosprechstunde der unmittelbare persönliche Kontakt zur Ärztin oder zum Arzt fehlt, minimiert sich folglich das o.g. Sensorium zur möglichst sicheren Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit. Dies kann zwangsläufig nur mit einer Erhöhung des Fehlerniveaus und des Missbrauchsrisikos im Rahmen der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit einhergehen. Der Patient kann sich am Telefon z.B. gesünder anhören als er tatsächlich ist und eine Lungenentzündung so nicht rechtzeitig entdeckt werden, weil der Arzt den Patienten mangels unmittelbaren persönlichen Kontakts nicht mit dem Stethoskop abhören kann. Der Patient kann sich am Telefon aber auch kränker anhören als er tatsächlich ist. Eine Erkrankung, die keine „schwere Symptomatik“ aufweist, muss nicht zwangsläufig zur Arbeitsunfähigkeit führen. Freilich soll das minimierte Sensorium dadurch kompensiert werden, dass die neue AU-RL enge Vorgaben dazu macht, wann eine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit per Video- oder Telefonsprechstunde zulässig ist – etwa per Videosprechstunde nur, wenn die Erkrankung dies nicht ausschließt, oder per telefonischer Sprechstunde nur, wenn die Feststellung im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich ist, keine schwere Symptomatik vorliegt und der Patient dem Arzt bekannt ist. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Erkrankungen künftig als solche ohne „schwere Symptomatik“ definiert sind. In der AU-RL finden sich hierzu keinerlei Anhaltspunkte. Zudem ist für den Arbeitgeber in der Regel nicht erkennbar, auf welchem Feststellungswege – sei es aufgrund eines unmittelbar persönlichen Gesprächs, einer Videosprechstunde oder eines Telefonats – die Diagnose und die AU-Bescheinigung zustande gekommen sind und ob dabei die Vorgaben der AU-RL im Einzelfall beachtet wurden. Eine verlässliche Bewertung, welche Krankheiten für eine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit per Video oder per Telefon geeignet sind, wird wohl erst nach ersten gerichtlichen Entscheidungen möglich sein. All diese Gründe zeigen, dass das Vertrauen des Arbeitgebers in die neuen Feststellungswege nicht besonders groß sein kann.

Medikamente (Bild: Shutterstock)
Bild: Shutterstock

Was können Arbeitgeber tun?

Arbeitgeber müssen nicht jede AU-Bescheinigung widerspruchslos hinnehmen. In der arbeitsrechtlichen Praxis kommt es seitens des Arbeitgebers häufig zu Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit, z.B. wenn der Arbeitnehmer sich unmittelbar im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten krankmeldet oder der Arbeitnehmer während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit intensiv Sport treibt (z.B. Teilnahme an einem Marathon). Gelingt es dem Arbeitgeber durch Darlegung der besonderen Umstände den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verweigern.

Im Streitfall um die Pflicht zur Entgeltfortzahlung sollten Arbeitgeber genau hier zusätzlich ansetzen und nicht nur die Arbeitsunfähigkeit an sich anzweifeln, sondern angesichts der verschiedenen Feststellungswege vom Arbeitnehmer zusätzlich verlangen, dass dieser (auch) darlegt und nachweist, dass seine Arbeitsunfähigkeit im Einklang mit der AU-RL festgestellt worden ist. Denn Verstöße gegen die Regelungen der AU-RL sind i.d.R. dazu geeignet, den Beweiswert einer AU-Bescheinigung zu erschüttern (vgl. BAG, Urt. v. 28.06.2023 – 5 AZR 335/22). Arbeitgeber können sich daher die neuen Vorgaben der AU-RL auch zunutze machen.


Über die Autoren


Peter Schott

Peter Schott
Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt)

Arbeitgeberverband HessenChemie

Peer Frank

Peer Frank
Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt)

Arbeitgeberverband HessenChemie



(1) www.iwkoeln.de/studien/jochen-pimpertz-kosten-der-entgeltfortzahlung-auf-rekordniveau-trotz-datenkorrektur.html

(2) Quelle: Hördt, ArbRAktuell 2021, 89

(3) www.haev.de/presse-medien/pressemitteilungen/nachrichten-detailansicht/pressestatement-zum-auslaufen-der-telefonischen-krankschreibung

(4) www.g-ba.de/downloads/39-261-6324/2023-12-07_AU-RL_telefonische%20Feststellung-AU_BAnz.pdf

(5) www.g-ba.de/downloads/40-268-10018/2023-12-07_AU-RL_telefonische%20Feststellung-AU_TrG.pdf

(6) www.handelsblatt.com/politik/deutschland/karl-lauterbach-wir-werden-die-telefonische-krankschreibung-dauerhaft-ermoeglichen/100001645.html.

(7) www.haev.de/presse-medien/pressemitteilungen/nachrichten-detailansicht/pressestatement-zur-wiedereinfuehrung-der-telefonischen-krankschreibung

(8) www.bundesaerztekammer.de/presse/aktuelles/detail/krankschreibung-per-telefon

(9) arbeitgeber.de/die-neuerliche-telefonische-krankschreibung-ist-eine-fehlleistung-der-gesundheitspolitik/

(10) www.g-ba.de/downloads/40-268-10018/2023-12-07_AU-RL_telefonische%20Feststellung-AU_TrG.pdf

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