Arbeitsgestaltung in der digitalen Transormation

Eröffnen sich Chancen für die klassische Arbeitsgestaltung durch die digitale Transformation? Oder halten die Konzepte für eine menschengerechte Gestaltung von Arbeitsaufgaben, Arbeitsmitteln und Arbeitsumgebung den veränderten technologischen Rahmenbedingungen vielleicht doch nicht stand?

Zugegeben, es ist schon eine Weile her, dass ich mein Studium der Arbeitswissenschaft abgeschlossen habe. Viele Konzepte haben sich seitdem weiterentwickelt. Im Tagesgeschäft ist es gar nicht so einfach, immer und in allen interessanten Themen auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschungen zu bleiben. Deshalb genieße ich es sehr, wenn ich in Gremien mit Wissenschaftlern und Experten aus der Wirtschaft zusammenarbeiten kann. In diesem Rahmen kommt oft zu interessantem und interdisziplinärem Austausch. So kann man State oft the Art bleiben und gleichzeitig die eigenen Erkenntnisse aus der Praxis einbringen. Ein Grund, warum ich mich entschlossen habe, im DIN Sonderausschuss Ergonomie mitzuarbeiten. In diesem Ausschuss geht es um die Frage, ob die aktuellen Normen zur Gestaltung von Arbeit auch den Rahmenbedingungen von Digitalisierung und Industrie 4.0 standhalten. Ob es Modernisierungsbedarf gibt oder vielleicht sogar komplett neue Normen entwickelt werden müssen. Wir haben über einen längeren Zeitraum alle bestehenden Normen geprüft. Die gute Nachricht: die meisten Normen haben – ggf. mit marginalen Anpassungen – auch weiterhin Bestand.

Im deutschsprachigen Raum wird die Arbeitsgestaltung als Oberbegriff für die systematische Gestaltung von Arbeitsaufgaben, Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen betrachtet. Ergonomie ist in diesem Verständnis ein Teilgebiet, dass sich in erster Linie auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen, Werkzeugen und Prozessen bezieht, um das Arbeiten sicherer und effizienter zu machen.

#Grundlegende Kriterien der menschengerechten Arbeitsgestaltung

Nach Luczak & Volpert werden hier fünf Ebenen unterschieden:

(1) Schädigungslosigkeit und Erträglichkeit der Arbeit; (2) Ausführbarkeit der Arbeit; (3) Zumutbarkeit, Beeinträchtigungsfreiheit, Handlungs- und Tätigkeitsspielraum der Arbeit; (4) Zufriedenheit der Arbeitenden, Persönlichkeitsförderlichkeit der Arbeit; (5) Sozialverträglichkeit der Arbeit, Beteiligung der Arbeitenden an der Gestaltung.

#Präventive vs korrektive Arbeitsgestaltung

Aus betrieblicher Sicht verspricht eine ergonomische Gestaltung von Maschinen und Abläufen die Verbesserung der Effizienz. Idealerweise findet bereits im Entwicklungsprozess die präventive Arbeitsgestaltung Anwendung. Mit dieser Vorgehensweise liegt das Augenmerk bereits während des Produktentwicklungsprozesses auf der Vermeidung gesundheitlicher Schädigungen und Beeinträchtigungen des Wohlbefindens und der Arbeitsfreude. Zwar können Korrekturmaßnahmen erkannter Mängel (korrektive Arbeitsgestaltung) auch nachträglich im laufenden Betrieb umgesetzt werden, allerdings ist dies in aller Regel aufwändiger und teurer.

#Chancen der Digitalisierung

Mit der Digitalisierung von Prozessen hat sich der Fokus verschoben. Digitale Simulationen ermöglichen nicht nur die gedankliche Vorwegnahme möglicher Schädigungen und Beeinträchtigungen, sondern lassen sich realitätsgetreu visualisieren. So liegt der Schwerpunkt der arbeitswissenschaftlichen Betrachtungen oft in der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsmitteln und -plätzen oder Softwarelösungen und weniger auf der Analyse und Gestaltung von Arbeitstätigkeiten und ihren Potenzialen für intrinsische Motivation, Zufriedenheit und Persönlichkeitsentwicklung.

So finden sich in der Literatur zwar viele Beispiele zur Analyse von physischen Belastungen durch Assistenzsysteme oder die ergonomische Gestaltung von Robotern und Benutzungsschnittstellen, aber kaum Untersuchungen der konkreten Auswirkungen digitaler Technologien und Systeme auf die Tätigkeiten der Beschäftigten und die damit verbundenen Freiräume für die persönliche Entwicklung und Entfaltung. Oft wird nicht ausreichend beachtet, wie Technologien und Softwarelösungen Aufgaben und Arbeitsgestaltung verändern.

#Prospektive Arbeitsgestaltung

Während die Ebenen 1, 2 und tw. 3 der menschengerechten Arbeitsgestaltung mittlerweile selbstverständlich sind und nicht nur in bestehenden, sondern insbesondere auch in neuen Prozessen im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen regelmäßig evaluiert werden, kommt dem Handlungs- und Tätigkeitsspielraum; der Persönlichkeitsförderlichkeit und der Beteiligung der Arbeitenden an der Gestaltung der Arbeit in Zukunft eine besondere Bedeutung zu.  Denn für die prospektive Arbeitsgestaltung sind die Zusammenhänge zwischen Arbeitsmerkmalen und Arbeitszufriedenheit und -motivation entscheidend. Und dafür wiederum sind die Aspekte entscheidend, die den Handlungsspielraum der Arbeitenden und die erlebte Sinnhaftigkeit von Arbeit betreffen.

Und genau hier trennen sich in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion die Lager. Während die Befürworter der digitalen Transformation im Einsatz von Assistenzsystemen die Chance sehen, dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken, wird auf der anderen Seite der Wegfall von Arbeitsplätzen befürchtet. Weitere Risiken betreffen die Sorge vor zunehmender Leistungs- und Erfolgskontrolle, den Zuwachs an Flexibilitätsanforderungen sowie den Verlust von Autonomie und Aufgabenvollständigkeit. Gerade die erwarteten negativen Auswirkungen auf die Tätigkeiten könnten durch eine prospektive Arbeitsgestaltung vermieden werden. Für die Praxis würde das bedeuten, sich parallel zur technischen/technologischen Gestaltung von Prozessen oder Produkten die Auswirkungen auf die Tätigkeit anzuschauen.

Bei der Entwicklung neuer digitaler Angebote konzentrieren sich Anbieter häufig auf innovative technische Möglichkeiten und eine attraktive grafische Umsetzung. Die so entstandenen Anwendungen orientieren sich häufig nicht an der Nutzerperspektive. Sie sind oft nicht intuitiv bedienbar und bieten nicht die Funktionalität, die die Anwender erwartet haben. Das nutzerzentrierte/menschenzentrierte Design dreht diese Herangehensweise um. Nicht die Unternehmensinteressen und -kompetenzen stehen im Mittelpunkt, sondern die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Wünsche der Nutzer. Vor der eigentlichen Entwicklung erfolgt daher eine Analyse der Nutzer und ihrer Situation. Auch während der Entwicklung wird immer wieder Feedback eingeholt.

Auch wenn die Arbeitswissenschaft eine interdisziplinäre Wissenschaft ist, war es ein langer Weg, die Experten der klassischen Arbeitsgestaltung und die Protagonisten des menschenzentrierten Designs gemeinsam an einen Tisch zu bekommen. Und obwohl die grundlegenden Prinzipien, die die Basis für den User-Centered-Design Prozess bilden, im Kern die Vorgehensweise der präventiven Arbeitsgestaltung beschreiben, wird ein gemeinsames Verständnis der Entwickler und Konstrukteure noch ein weiter Weg sein. Der DIN wird mit dem noch in 2024 erscheinenden Technischen Report „xxx“ ein Stück zur Vergemeinschaftung der Sichtweise beitragen.

PS: Die 6 Prinzipien der ISO-Norm 9241-210:2019

  • Das Design basiert auf einem Verständnis der Nutzer, ihrer Aufgaben und ihrer Umgebung: Es genügt nicht, eine Vorstellung von der Zielgruppe seines Produkts zu haben. User-Centered Design fordert ein tiefes Eintauchen in die Lebenswelt der Anwender.
  • Die Nutzer werden über den gesamten Entwicklungs- und Designprozess eingebunden: Hierin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zu anderen Herangehensweisen. Nutzer werden nicht erst zur Beurteilung eines fertigen Produkts eingeladen, sondern ihre Sicht bildet den Startpunkt der Entwicklung.
  • Das Design wird von der Bewertung durch die Nutzer gesteuert: Jeder Prototyp und jede Beta-Version wird von Nutzern bewertet, und dieses Feedback wird für die Weiterentwicklung des Produkts verwendet.
  • Der Prozess ist iterativ: Die Prozessschritte der Produktentwicklung werden nicht linear und nicht nur einmal durchlaufen. Feedback von Nutzern kann mehrfache Wiederholungen einzelner Phasen notwendig machen.
  • Die gesamte User Experience wird in den Blick genommen: User-Centered Design zielt nicht darauf ab, die Anwendung eines Produkts möglichst einfach zu machen, sondern versteht User Experience breiter. Ein Produkt soll positive Emotionen hervorrufen, echte Lösungen bieten und zur wiederholten Nutzung animieren.
  • Das Projektteam ist multidisziplinär: User-Centered Design erfordert eine enge Zusammenarbeit über Disziplinen hinweg. Silo-Denken in der Produktentwicklung hat keinen Platz. Erst wenn Texter, Grafiker und Programmierer ihre unterschiedlichen Perspektiven einbringen, können die Anforderungen der Nutzer bestmöglich umgesetzt werden.

Quellen:

Luczak/Volpert, Handbuch Arbeitswissenschaft, 1997 Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag,

Ulich, Arbeitspsychologie, 1994 Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag

Mütze-Niewöhner/Willemsen/Mayer/Duisberg, Partizipative und prospektive Arbeitsgestaltung – reloaded; Analyse und Gestaltung von Arbeitstätigkeiten im Kontext von Digitalisierung und Industrie 4.0, 2023 Working Paper Forschungsförderung

Arbeitsgestaltung – Lexikon der Psychologie (spektrum.de) / Abruf 03.09.2024

https://www.ionos.de/digitalguide/websites/web-entwicklung/user-centered-design/ Abruf 03.09.2024

Sabine König

Sabine König ist Diplom-Ingenieurin, REFA Industrial Engineer und systemische Organisationsberaterin ist seit 2009 als Referentin Arbeitswissenschaft bei HessenChemie tätig und verfügt über langjährige Erfahrung als Abteilungsleiterin, Projektleiterin und Inhouse-Consultant sowie Lehrtätigkeit an der Hamburger Fernhochschule. Ihre Kernkompetenzen liegen in den Bereichen Arbeitszeitgestaltung, Arbeitsbewertung, Entgeltgestaltung, Arbeitsorganisation und Organisationsentwicklung.

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